Seltene Erkrankungen: KI in der Diagnostik

KI als Hoffnungsträger in der Diagnostik von Seltenen Erkrankungen

Passend zum internationalen »Tag der Seltenen Erkrankungen« am 28.02.2023 möchten wir mit diesem Blog-Beitrag auf KI als Hoffnungsträger in der Diagnostik von Seltenen Erkrankungen eingehen. Obwohl man von Seltenen Erkrankungen spricht, sind allein in Deutschland um die 4 Millionen Menschen von ebendiesen betroffen. Für die Patient*innen bedeutet dies, viele Hindernisse meistern zu müssen – darunter beispielsweise auch die Diagnose ihrer Krankheit. Wir, das Fraunhofer IESE, untersuchen in Projekten wie SATURN (»Smartes Arztportal für Patienten mit unklarer Erkrankung«), wie mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) bei geringen Datenmengen nachvollziehbare und transparente Verdachtsdiagnosen für Seltene Erkrankungen gestellt werden können.

Als Seltene Erkrankungen (engl. »rare disease«) sind in Europa Erkrankungen definiert, die eine Inzidenz von maximal 1:2.000 haben. Das heißt, dass von 2.000 Personen höchstens eine Person von einer solchen Krankheit betroffen ist. Von ca. 30.000 bekannten Krankheiten gelten ca. 8.000 als Seltene Erkrankungen. Durch die hohe Anzahl an unterschiedlichen Seltenen Erkrankungen sind weltweit etwa 300 Millionen Menschen betroffen, was 3,5 % – 5,9 % der Gesamtbevölkerung entspricht. Davon leben 30 Millionen Personen in Europa und 4 Millionen in Deutschland. Das Auftreten von Seltenen Erkrankungen kann weltweit allerdings variieren. Dies liegt an der jeweiligen örtlichen Definition oder hängt von genetischen Faktoren ab, die die Häufigkeit des Auftretens einer Seltenen Erkrankung beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist die Sichelzellenanämie. In Deutschland sind weniger als 0,01 % an ihr erkrankt, was sie per Definition in Deutschland zu einer Seltenen Erkrankung macht. Durch den Schutz vor Malaria, hat sich diese Zellveränderung evolutionär in Malariagebieten jedoch durchgesetzt. Aus diesem Grund leiden zum Teil mehr als 20 % der Bevölkerung in Malariagebieten an einer Sichelzellenanämie, weshalb es sich in diesen Gebieten entsprechend um keine Seltene Erkrankung handelt.  

Herausforderungen bei der Diagnostik und Behandlung von Seltenen Erkrankungen 

Obwohl es so viele und auch grundsätzlich verschiedene Seltene Erkrankungen gibt, haben sie dennoch viel gemeinsam: meist handelt es sich um genetisch bedingte Krankheiten, die chronisch und schwer verlaufen. Durchschnittlich dauert es 5 Jahre, bis eine Seltene Erkrankung richtig diagnostiziert wird. Dieser Weg geht häufig mit Fehldiagnosen einher, sowie einer häufig ungenügenden medikamentösen Versorgung. Zusätzlich besteht das Problem, dass für viele Seltene Erkrankungen noch keine kausalen Therapien vorhanden sind, da sowohl die Erforschung der Krankheiten als auch die Entwicklung neuartiger Medikamente in diesem Bereich erschwert sind. Allerdings können Projekte wie SATURN   die Diagnosestellung und die entsprechende Weiterversorgung bei Fachärzt*innen unterstützen. Mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) und basierend auf klinischen Falldaten und Expertenwissen wird eine nachvollziehbare und transparente Verdachtsdiagnose geliefert. Ebenso unterstützt SATURN die entsprechende Weiterleitung an medizinische Expert*innen.  

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Im Podcast des Fraunhofer IUK spricht unsere Kollegin Patricia Kelbert zum Thema »KI – der Gott in weiß?«. – Hier geht’s zum Podcast.

Neue Methoden der Diagnose und Behandlung mittels KI 

KI bietet grundsätzlich Möglichkeiten zur Kostenreduktion und zur Verbesserung der Behandlung von Patient*innen und des Arbeitsalltags von medizinischem Fachpersonal durch (Teil-)Automatisierung von Prozessen, die zuvor arbeitsintensiv waren. Beispielsweise wird KI häufig zum Labeln von radiologischen Bildern eingesetzt. Um das volle Potential von KI auszuschöpfen sind nicht nur große, sondern auch qualitativ hochwertige Datensätze notwendig, die in der klinischen Praxis leider kaum vorhanden sind. Für Seltene Erkrankungen besteht, bedingt durch ihre Natur, ein Mangel an Daten, welche zusätzlich durch die leichtere Rückverfolgung anspruchsvoller zu anonymisieren sind. Um die Datenverfügbarkeit von Patient*innen zu erhöhen, sollten unter anderem Konzepte zu Datensouveränität ausgearbeitet werden.  

Andererseits können – trotz dieser Limitationen – Methoden der KI entwickelt und angewandt werden, um mit kleinen Datensätzen weiterhin effektiv zu einer Verbesserung der Versorgung beizutragen. Ältere Ansätze, die mit einer kleinen Datenmenge arbeiten können, beinhalten das sogenannte fallbasierte Schließen und das regelbasierte maschinelle Lernen. Wenn ein/-e Patient*in mit gewissen Symptomen und Risikofaktoren vorstellig werden würde, kann ein fallbasiertes Schließen das Problem der Diagnose durch Ähnlichkeit zu bisher eingepflegten Daten adressieren. In einer Falldatenbank, die das zentrale Element des Systems bildet, wird dann ein analoger Fall gesucht und vorgeschlagen. Der/die neue Patient*in wird dann nach abgeschlossener Diagnose ebenfalls in die Falldatenbank aufgenommen, sodass sich diese graduell erweitert. Regelbasierte Systeme benutzen Regeln in der Form »WENN – DANN«, extrahiert aus vorhandenen Behandlungsdaten, sodass eine Diagnose erfolgen kann.  

Neuronale Netze im Einsatz gegen Seltene Erkrankungen 

In den letzten Jahren sind außerdem Techniken im Bereich der (tiefen) neuronalen Netze populär geworden. Diese zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie unterschiedlichste Datentypen wie Tabellen, Texte, Bilder oder genetische Informationen in »Rohform« verarbeiten zu können, ohne dass vorher durch menschliches Wissen neue Attribute generiert werden. Diese Form des maschinellen Lernens erfordert besonders viele Daten, ist allerdings den simpleren Methoden in den meisten Kontexten deutlich überlegen.   

Aktuell werden neue Verfahren erprobt, um das Problem der Datenverfügbarkeit zu adressieren. Ein Ansatz ist das sogenannte »Transfer Learning« bei dem ein Modell Informationen aus einer Domäne in eine andere überträgt. Alternativ können auch Informationen von einer Vorhersageaufgabe auf eine andere übertragen werden. So könnte zum Beispiel ein Modell, das auf die Diagnose einer häufigen Krankheit trainiert wurde, als Ausgangspunkt genutzt werden, um das Modell zur Erkennung einer Seltenen Erkrankung vorherzusagen und weiter zu verbessern. Auch »one-shot« und »few-shot-learning« Ansätze versuchen Wissen unterschiedlicher Domänen zu übertragen, indem sie Modelle produzieren, die besonders gut dazu in der Lage sind, bisher ungesehene Beobachtungen (oder hier Diagnosen) korrekt zu identifizieren. Ein anderer Ansatz ist die Datenaugmentation. Dieser wird zum Beispiel für Bilddaten genutzt, um ein Datenset künstlich zu vergrößern (z. B. lassen sich damit um 90° rotierte Bilder ergänzen) oder alternativ völlig neue synthetische Daten zu erzeugen. Letzterer Fall kann z. B. durch generative Netzwerke erreicht werden, die in den letzten Monaten insbesondere durch ChatGPT (für textbasierte Unterhaltungen) und DALL-E (für Bilderzeugung) medial diskutiert wurden.  

SATURN als ein weiterer Schritt in der KI-basierten Diagnostik von Seltenen Erkrankungen 

Die Vorhersage von Seltenen Erkrankungen bleibt dennoch eine herausfordernde Aufgabe. Im Projekt SATURN untersuchen wir daher unterschiedliche Ansätze, um die Diagnose von Seltenen Erkrankungen aus strukturierten und unstrukturierten Daten vorhersagen zu können. Das Projekt wird gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Frankfurt, der Goethe-Universität Frankfurt und der Technischen Universität Dresden realisiert. Es werden dafür reale und anonymisierte, klinische Falldaten der Universitätskliniken unter Berücksichtigung des Daten- und Patientenschutzes verwendet. 

Im SATURN-Projekt arbeitet das IESE an verschiedenen KI-Modulen. Wir entwickeln ein regelbasiertes System, das auf Expertenwissen basiert. Als Expertenwissen verstehen wir, u. a. die Extraktion von Regeln (sowohl manuell als auch durch KI-Ansätze – wie Natural Language Processing) aus medizinischen Leitlinien für die Gesundheitsbereiche Endokrinologie, Pulmologie und Gastroenterologie. Parallel beschäftigen wir uns mit der Weiterentwicklung und Anwendung von Interviewtechniken, um dieses Expertenwissen direkt von Fachärzt*innen zu erhalten. Dazu fokussieren wir uns auf die Konzeption und Umsetzung eines KI-Moduls zur Diagnoseunterstützung mittels maschinellen Lernens. Das genannte KI-Modul baut dabei auf den, im Projekt entwickelten, Common-Datamodels der krankheitsspezifischen Anwendungsfälle auf und benutzt die vorhandenen (anonymisierten) Daten von diagnostizierten Patient*innen zum Trainieren der Machine Learning-Algorithmen. 

Der Tag der Seltenen Erkrankungen ist eine wichtige Gelegenheit, um auf die Herausforderungen und Schwierigkeiten hinzuweisen, die diese mit sich bringen. Durch die niedrige Datenverfügbarkeit für Seltene Erkrankungen sind einige Hürden für die Entwicklung von KI gesetzt. Moderne Verfahren aus dem Bereich des maschinellen Lernens lassen jedoch einen optimistischen Blick auf die zukünftigen Möglichkeiten der Versorgung zu. Die Data Science und Digital Health Engineering-Abteilungen des Fraunhofer IESE wollen zusammen sowohl in der Forschung als auch in der Praxis dazu beizutragen, dass seltene Krankheitenschneller und leichter diagnostiziert werden können, damit eine passendere Behandlung der Patient*innen früher und zielführender stattfinden kann.

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Quellen  

Universitätsklinikum Frankfurt (2023). SATURN Projektwebsite. https://www.saturn-projekt.de
Fraunhofer IESE(2022). Referenzprojekt: SATURN. https://www.iese.fraunhofer.de/de/customers_industries/referenzprojekt-saturn.html
Orphanet (2022). Über seltene Krankheiten. https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/Education_AboutRareDiseases.php?lng=DE
https://doi.org/10.1016/S2213-8587(19)30006-3Spotlight on rare diseases (2019). The Lancet Diabetes & Endocrinology, 7(2), p. 75.  https://doi.org/10.1016/S2213-8587(19)30006-3
Piel, F. B., Patil, A. P., Howes, R. E., Nyangiri, O. A., Gething, P. W., Williams, T. N., … & Hay, S. I. (2010). Global distribution of the sickle cell gene and geographical confirmation of the malaria hypothesis. Nature communications, 1(1), 104.